
Leserbrief: „Deutschland kann selbstständig denken“ (Atomkraftwerke der 4. Generation)
Veröffentlicht am 6.4.2024 in den Reutlinger Nachrichten.
Betrifft den Artikel: „30 Industriestaaten wollen Atomkraft rasch ausbauen“ vom 22.3.2024 und den Leserbrief: „Verzagtheit ablegen“ vom 30.3.2024 von Herrn S.
Sehr geehrter Herr S. – Sie wollen, dass sich Deutschland den 30 Industriestaaten anschließt, die die Atomkraft ausbauen wollen. Sie halten das für richtig, nur, weil 30 Länder viele Länder sind. Sie wollen, dass Deutschland dabei auch noch als „Treiber“ fungiert, nur, weil Deutschland früher an der Spitze der technischen Entwicklung stand. Sie halten Kritiker am Ausbau der Atomkraft für voreingenommen, nur, weil sie vom Öko-Institut kommen. Haben Sie sich einmal überlegt, dass diese Wissenschaftler aufgrund ihres Wissens beim Öko-Institut arbeiten?
Doch mit der Wirtschaft ist es wie mit dem Sport. Mal ist man an der Spitze, mal sackt man ab. Schließlich ist die Konkurrenz groß. Es ist kein Makel, nicht an der Spitze zu stehen. Und es ist auch kein Makel, nicht bei allem mitzumachen. Wenn Deutschland bei den Ländern, die die Atomkraft ausbauen wollen, nicht dabei ist, dann nur, weil es selbständig denken kann und sich nicht blindlings einer Mehrheit anschließt, nur, weil es viele sind. Das war noch nie ein Qualitätskriterium.
Schauen wir uns die neuen AKWs in Finnland und in Frankreich an. Der französische Reaktor Flamanville 3 wurde 2007 in Auftrag gegeben und sollte 2012 in Betrieb gehen. Nun wird die Inbetriebnahmen Mitte 2024 angepeilt. Die geplanten Kosten sind von 4,2 Milliarden auf inzwischen mindestens 12,5 Milliarden Euro gestiegen.
Der finnische Reaktorblock Olkiluoto 3 wurde 2003 für 3 Milliarden Euro in Auftrag gegeben und sollte 2009 in Betrieb gehen. Tatsächlich ging er im Januar 2023 in Betrieb. Auch hier waren die Kosten auf 12 Milliarden Euro gestiegen. Im März dieses Jahres ging der neue Reaktor in die erste Wartung und fällt nun für längere Zeit aus. Langsamere Abkühlungsdauer und weitere technische Probleme sind dafür verantwortlich.
Mit den sogenannten Reaktoren der 4. Generation soll alles besser werden. Dazu gehören thoriumbetriebene Hochtemperaturreaktoren THTR, die auch als Kugelhaufenreaktor bekannt sind. Sie wurden in den 1960er Jahren im Kernforschungszentrum Jülich entwickelt. Kugelhaufenreaktoren haben im Vergleich zu Leichtwasserreaktoren keine Brennstäbe, sondern über 400.000 etwa 6 cm große Grafitkugeln, die mit radioaktiven Thoriumpartikeln gefüllt sind. Die Kraftwerke werden mit Helium statt mit Wasser gekühlt. Dadurch können sie den Wasserdampf, der die Turbinen antreibt, auf 750 Grad statt auf nur 330 Grad erhitzen. THTR schalten sich aus, wenn Helium fehlt und beginnen erst bei über 2500 Grad zu schmelzen. Dadurch gelten sie als effizienter und sicherer als die Leichtwasserreaktoren.
Diese Vorteile lassen Politiker von diesem Typ schwärmen. Doch auch in diesen Atomkraftwerken fällt Atommüll an, für den es frühestens nach 2050 ein Endlager gibt. Auch darf kein Sauerstoff in den Reaktor eindringen, da sich das Grafit entzünden kann. Das nicht brennbare Helium dehnt sich bei Hitze aus und sprengt das Kraftwerk in die Luft.
Mit dem Bau des ersten kommerziellen Kraftwerks der 4. Generation begann China 2012. Im Dezember 2023 ging es in Betrieb. Statt mit Helium kühlt es mit einer Salzlösung. Sie verhindert eine Überhitzung, erhöht aber die Korrosionsgefahr des Gebäudes. Der Reaktor setzt verstärkt das schwer zurückhaltbare radioaktive Tritium frei. Sein Müll strahlt mehr Gammastrahlen aus als der von Leichtwasserreaktoren und ist darum schwer zu handhaben.
In Deutschland war von 1983 bis 1989 in Hamm-Uentrop ein THTR in Betrieb. Er wurde stillgelegt, da es häufig Störfälle gab und viele Grafitkugeln aus unbekannten Gründen zerbrachen. Seine Leistung war gering, er war unwirtschaftlich. Erst 8 Jahre nach seiner Stilllegung konnten die radioaktiven Kugeln in einem Zwischenlager deponiert werden. Ihre Aufarbeitung ist schwierig. Das Gebäude selbst wird erst 2045 abgerissen. 6000 Kubikmeter strahlender Müll muss dann entsorgt werden. Bis dahin muss in dem leeren, nicht nutzbaren, riesigen Gebäude ein Unterdruck aufrechterhalten werden, damit keine radioaktiven Partikel nach außen dringen. Luft und Grundwasser der Umgebung werden ständig überwacht.
Vergleicht man die Erfahrungswerte, die es mit dem THTR gibt, mit den hohen Erwartungen der Politiker, dann kann man nur staunen. Das einzige, was man wirklich weiß ist, dass er viele Milliarden Euro für Entwicklung, Bau und Entsorgung verschlingt.
Herr S., Sie scheinen zu glauben, je komplizierter und gefährlicher eine Technik ist, um so fortschrittlicher ist sie. Nein! Deutschland kann seine technischen Fähigkeiten zeigen, indem es das erste Land ist, dem die Dekarbonisierung gelingt. Das ist mit dem schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien, mit Stromspeichern, einem europaweiten Stromverbund, energieeffizienter Technik und Energiesparen möglich. Es wäre eine große Leistung, die noch kein Land geschafft hat. Davon würde auch die deutsche Wirtschaft profitieren. Voraussetzung ist allerdings Planungssicherheit. Darum müssen die Ampelparteien und die Opposition endlich am gleichen Strang ziehen.
Nicht Deutschland ist verzagt, wie Sie schreiben, sondern Menschen wie Sie, Herr S.! Es geht nicht darum, was andere Leute heute über uns sagen. Es geht nur darum, dass wir unseren Kindern eine Zukunft bieten, die nicht durch unsere Fehler belastet ist.
Ulrike Selje, Reutlingen
[Wir möchten die Leserbriefe von Ulrike Selje, Mitglied des BUND, veröffentlichen. Sie können sich im Wortlaut von den in der Zeitung veröffentlichten Leserbriefen leicht unterscheiden.
Grund: Die Texte, die Ulrike Selje an die Zeitung geschickt hat, wurden von der Redaktion überarbeitet. Dadurch unterscheidet sich der Wortlaut der Originaltexte von den veröffentlichten Leserbriefen. Der Inhalt ist dabei gleichgeblieben. Da uns nur die Texte von Ulrike Selje als Datei vorliegen, müssten wir, um hier den genauen Wortlaut der Leserbriefe aus der Zeitung wiederzugeben, alle Artikel Wort für Wort abtippen. Da sich dadurch am Inhalt nichts ändert, haben wir uns entschieden, hier die Originaltexte von Ulrike Selje einzufügen.]