Zum Artikel: „Weniger Hochwasserschutz?“, vom 19.6.2024, von Jens Schmitz
Ursachen für Überflutungen liegen an zu wenig Naturschutz

Veröffentlicht am 29. Juni 2024 in den Reutlinger Nachrichten
Unionspolitiker von Bund, Ländern und EU gehen davon aus, dass „Überschwemmungen, ausgedehnte Waldbrände und Sturmschäden Deutschland in Zukunft immer häufiger treffen werden“. Sie fordern, dass bei der Hochwasserschutz-Prävention weniger Rücksicht auf Natur- und Artenschutz genommen wird, um den Bau von Dämmen und Rückhaltebecken zu beschleunigen. Sie behaupten, Naturschutz, wie zum Beispiel die „Rücksichtnahme auf jeden Mistkäfer“, behindere Maßnahmen zum Hochwasserschutz und gefährde Leben. Indirekt machen sie die Ampel mit ihrer Naturschutzpolitik für die Überschwemmungen mitverantwortlich.
Doch die Ampel ist erst seit 2 Jahren an der Regierung, die Union war es 32 Jahre, zwischen 1982 und 2021, unterbrochen von 7 Jahren rot-grüner Regierung. Auch schon in der Regierungszeit der Union gab es verheerende Überflutungen. Man denke nur an die katastrophalen Hochwasser der Oder, der Elbe, des Rheins und der Donau. Hinzu kommen Hochwasser durch unerwartetes Ansteigen kleiner Bäche und überforderter Kanalisationen.Wo waren da die Dämme und Rückhaltebecken, die die Union in ihrer Regierungszeit gebaut hat?
Auch die Klagen über die zeitraubende Bürokratie sind scheinheilig, denn deren Abbau wird schon seit vielen Jahren gefordert - vergeblich. Es ist eine beliebte Methode dieser Partei, in Bereichen, in denen sie versagt hat, die Schuld auf die Ampel zu schieben, wie man auch bei der Energiepolitik beobachten kann.
Mit ihrer Forderung nach Dämmen und Rückhaltebecken setzt die Union nur auf Symptombekämpfung. Doch das wird teuer, denn da die Unwetterereignisse häufiger auftreten werden, wie sie erkannt hat, müssen die Dämme immer höher und die Rückhaltebecken immer größer werden.
Dauerhafte Lösungen gegen Hochwasser gibt es nur, wenn die Ursachen beseitigt werden, allen voran die Klimaerwärmung. Sie kann nur mit dem Umstieg auf Erneuerbare Energien gestoppt werden. Doch die Bedeutung vom Ausbau der Wind- und Solarkraftwerke hatte die Union nicht erkannt und ausgebremst. Und nun erkennt sie auch nicht die Bedeutung des Natur- und Artenschutzes.
Weitere Ursachen für Hochwasser sind die Flussbegradigungen, die Erschließung von Bauland in Überschwemmungsgebieten, die Versiegelung des Bodens, die Entwässerung von Mooren, die Beseitigung von Wäldern für Industriegebiete (Tesla), um nur einige zu nennen.
Man sieht, die Ursachen für Überflutungen liegen nicht an zu viel, sondern an zu wenig Naturschutz. Renaturierungsmaßnahmen spielen darum eine wichtige Rolle beim Hochwasserschutz. Doch genau die will die Union verhindern. Sie zeigt damit ihr mangelndes Wissen über Reaktionen der Natur. Ein Beispiel aus der Vergangenheit verdeutlicht das Problem:
Früher sah man in der Flussbegradigung die Lösung für den Hochwasserschutz. Die Begradigung verkürzte die Fließstrecke und erhöhte die Fließgeschwindigkeit im Oberlauf. Dadurch wurden hier die Überflutungen verringert. Doch im Unterlauf, wo das Gefälle fehlt, trat das Flusswasser häufiger über die Ufer, da weniger Wasser im Oberlaufgebiet versickerte.
Zusätzlich riss die höhere Fließgeschwindigkeit das Grundwasser aus dem Umland mit sich. In Zeiten fehlenden Regens trockneten die Böden schneller aus und es traten vermehrt Ernteschäden auf. Nur durch teure Renaturierungsmaßnahmen konnten die Schäden begrenzt werden.
In den vergangenen Jahren hatten Wasserwirtschaftler sinkende Flusspegel und abnehmende Grundwassermengen gemessen. Es waren Jahre mit zu wenig Niederschlag. Erst im letzten und in diesem Jahr regnet es so viel, dass sich der Grundwasserspiegel erholen konnte. Sowohl lange Trocken- als auch lange Regenphasen sind Folgen der Klimaerwärmung, weil der Jetstream seine Umlaufbahnen verändert.
Darum müssen wir Maßnahmen ergreifen, die uns nicht nur vor Hochwasser, sondern auch vor Niedrigwasser schützen. Und das geht nur durch Naturschutz: Besonders wichtig ist die Entsiegelung von Flächen, damit Regenwasser großflächig ins Grundwasser versickern kann, statt direkt über Flüsse ins Meer zu fließen oder die Kanalisation zu überlasten. Ehemalige Moorgebiete müssen wieder vernässt werden. Sie speichern dreimal so viel Wasser wie Wiesen und doppelt so viel CO2 wie Wälder. Auch sollte in den Überflutungsgebieten der Flüsse kein Bauland erschlossen werden. Die von der Union geforderten teuren Rückhaltebecken werden überflüssig, wenn Flüsse an beiden Seiten wieder genügend Platz haben, um sich bei Hochwasser auszubreiten. Allerdings bedeutet weniger Bauland, dass wir in die Höhe statt in die Breite bauen müssen.
Diese Maßnahmen schützen natürlich nicht vor Überflutungen, wie wir sie in Niedersachsen und in Süddeutschland erlebt haben. Doch davor schützen auch keine Dämme und Rückhaltebecken, wie sie die Union fordert. Hier müssen wir konsequent die Klimaerwärmung bekämpfen, auch mit Wärmepumpen statt Gasheizungen, einem sinkenden Verbrauch fossiler Treibstoffe und Energiesparen. Doch bis diese Maßnahmen wirken, dauert es lange. Leider wurde schon viel zu viel Zeit mit Untätigkeit vertan.
Zuletzt noch zum Artenschutz, den die Union als zweitrangig betrachtet. Den Mistkäfer, den Manuel Hagel erwähnt, kann er zwar nicht am Samstagabend auf den Grill legen. Doch das sollte nicht das einzige Kriterium für schützenswerte Tiere sein. Mistkäfer sind unentbehrliche Mitglieder der Lebensgemeinschaft, zu der auch wir Menschen gehören. Sie sorgen dafür, dass wir nicht über die Tier- und Pflanzenleichen der letzten Jahrhunderte stapfen müssen. Sie helfen, dass aus toten Lebewesen fruchtbare Erde wird, in der Pflanzen wachsen können, die alle Tiere und Menschen als Nahrung brauchen. In den vergangenen Jahrzehnten beschleunigte sich das Artensterben, weil die Bedeutung des Artenerhalts unterschätzt wird. Wenn diese Entwicklung anhält, rauben wir uns unsere Lebensgrundlagen. Mistkäfer haben den gleichen Wert wie Bienen.
Ulrike Selje, Reutlingen